Die Diskussion um kulturelle Aneignung war nicht zu allen Zeiten emotional so aufgeladen wie heutzutage. In der Vergangenheit bedeutete der Blick auf fremde Kulturen für viele Komponisten eine willkommene Inspirationsquelle für das eigene Schaffen. Die Begeisterung für die fernöstlichen Kulturen setzte in Europa mit der Pariser Weltausstellung von 1889 ein, bei der unter anderem javanische Gamelan-Musik präsentiert wurde. Im jüngsten Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich standen gleich zwei Kompositionen auf dem Programm, die den Einfluss von Fernost verraten: Sept haïkaï – esquisses japonaises von Olivier Messiaen und Das Lied von der Erde von Gustav Mahler. Doch die Art und Weise, wie das Exotische, konkret das Japanische und das Chinesische, in die beiden Werke eingedrungen ist, könnte unterschiedlicher nicht sein.

Messiaen, der seine Sept haïkaï 1962 im Anschluss an eine Konzertreise nach Japan geschrieben hat, fügt darin die Gedichtform des Haiku, den höfischen Musikstil des Gagaku und die Stimmen japanischer Vögel zu einem unverwechselbaren Ganzen zusammen. Das Japanische wird dabei zu einem Vehikel für Messiaens Modernismus. Mahler dagegen war nie in China. Das Chinesische des Liedes von der Erde beschränkt sich denn auf den Text. Der Komponist verwendet und verändert Gedichte aus Hans Bethges Sammlung Die chinesische Flöte, Texte also, die sich an chinesische Lyrik des 8. Jahrhunderts anlehnen. China aus dritter Hand sozusagen. Stilistisch hört sich das Lied jedoch wie eine hybride Kombination aus Mahlers Symphonien und seinen Orchesterliedern an.
Glück im Unglück hatte der Veranstalter, dass als Ersatz für den erkrankten Franz Welser-Möst der Dirigent Jonathan Nott gefunden werden konnte. Dass Nott nicht nur ein Mahler-Spezialist ist, sondern auch ein Flair für neuere Musik hat, passte dabei punktgenau. Mit sicherer Hand führte er durch die rhythmischen Klippen von Messiaens Partitur, die zuvor noch nie in der Tonhalle erklungen war. Optische und akustische Sensation der Wiedergabe bildeten die zahlreichen exotischen Schlaginstrumente wie Cencerros (Kuhglocken), Röhrenglocken, chinesische Becken, Gongs, Xylophon oder Marimba. Dazu trat, bald als virtuoser Solist im Vordergrund, bald im Wettstreit mit den Perkussionsinstrumenten, der Pianist Hendrik Heilmann, Mitglied des Tonhalle-Orchesters. Für das melodische Element waren typischerweise die Blasinstrumente des Orchesters verantwortlich, während die Geigen (tiefe Streichinstrumente kommen nicht vor) mehr eine dekorative Rolle übernahmen.
Mahlers Lied von der Erde brachte dann leider nicht den erwarteten Höhepunkt. Drei Faktoren waren dafür verantwortlich: Erstens setzte Nott ganz auf den symphonisch-wuchtigen Charakter des Werks und wurde dadurch den liedhaften Aspekten zu wenig gerecht. Im ersten Satz forcierte er das in Riesenbesetzung angetretene Orchester derart, dass der Solist sich nur noch durch Brüllen bemerkbar machen konnte. Zum Zweiten wurde das Werk nicht in der Normalbesetzung mit Tenor- und Altsolo, sondern mit Tenor- und Baritonsolo aufgeführt. Diese Variante ist angeblich von Mahler, der aber nie eine Aufführung der Komposition erlebt hat, autorisiert worden. Sie hat aber den Nachteil, dass die klangliche und atmosphärische Spannung zwischen einer Männer- und einer Frauenstimme verloren geht. Wenn im Lied Der Abschied die Worte „Ich stehe hier und harre meines Freundes“ erklingen, passen sie für eine Altistin besser als für einen Bariton.
Drittens war die stimmliche und gestalterische Qualität der Sänger unbefriedigend. Dem extrem kurzfristig eingesprungen Benjamin Bruns – er kam direkt vom Flieger auf die Bühne – muss man dankbar sein, dass er die Aufführung überhaupt ermöglichte. Dennoch mochte man bedauern, dass sich sein metallisch klingender Heldentenor monochrom auf der Schiene des Pathetischen bewegte. Demgegenüber handelt es sich bei dem (regulär engagierten) Bariton Iurii Samoilov um eine lyrische Stimme. Das passte grundsätzlich für seine drei Gesänge gut. Was aber fehlte, waren ein gewisses Parfum des Vortrags und die Ausstrahlung auf das Publikum.
Fazit des Konzerts: eine stimmige Werkkombination, eine Trouvaille des Repertoires und eine enttäuschende Mahler-Interpretation.