Die Bayerische Staatsoper gilt seit jeher als Hort legendärer Aufführungen von Richard Strauss‘ Der Rosenkavalier. Dirigentengrößen wie Joseph Keilberth, Hans Knappertsbusch und natürlich immer wieder Carlos Kleiber, sowie in jüngerer Vergangenheit auch Kirill Petrenko, setzten – ganz gleich ob zu Repertoirevorstellungen oder zu den Opernfestspielen im Sommer – mit jeder Aufführung dieser „Komödie für Musik“ ganz eigene, weit beachtete musikalische Akzente. Die Spieltradition des Bayerischen Staatsorchesters ist bis in die Gegenwart durch einen ganz eigenen Strauss-Stil geprägt, wie ihn so nur die Wiener Philharmonikern oder die Staatskapelle Dresden pflegen.

Besonders in München haben stets die herausragendsten Sopranistinnen ihrer Genration die Partie der Marschallin verkörpert, jener ambivalent-distanzierten, über das Vergehen der Zeit sinnierenden und dabei über allem Durcheinander der Opernhandlung stehenden Grande Dame, welche liebevoll und altersweise ihren jungen Liebhaber Octavian in seine erste wahre Liebesbeziehung mit Sophie entsendet: Felicity Lott, Anja Harteros, Renée Fleming und natürlich Gwyneth Jones sind nur einige der Künstlerinnen, welche jede Aufführung des Münchners Rosenkavaliers zu ihrer eigenen Sternstunde veredelt haben.
Im Jahre 2021 erarbeitete Kultregisseur Barrie Kosky mit GMD Vladimir Jurowski schließlich eine Neuinszenierung, welche mit großem musikalischen als auch szenischem Erfolg in charmanter, moderner Ästhetik, und mit mindestens genauso viel Liebe zu den Figuren, die traditionsträchtige, etwas in die Jahre gekommene, Regiearbeit von Otto Schenk ablöste: Welch sonderbar’ Ding die Zeit ist, versucht Kosky zu ergründen, indem er das anachronistische Bild Wiens im 18. Jahrhundert aufbricht und als Traumwelten der drei zentralen Frauenfiguren deutet.
Jeder Akt widmet sich einer von diesen, eingefügt in die stete Präsenz Amors, der nicht nur sein Hauptzuständigkeitsfeld bedient, sondern auch chronosgleich Herr über die Zeit zu sein scheint. So treten die Emotionen und Sorgen der Marschallin im ersten Akt in den Vordergrund, welche zwar über Vergänglichkeit sinniert, ihr letztlich aber mit etwas wehmütiger, doch großer Gelassenheit entgegensieht. Für Sophie bricht im zweiten Akt ihre märchenhafte Traumwelt, gestaltet aus mythologisch-künstlerischen Vorbildern, ein, denn der imaginierte Prinz entpuppt sich als wahrer Ochs und schleicht sich als Alb in ihren Traum von Liebe, dem sie jedoch selbstbestimmt ein Ende setzt.
Schließlich laufen die Fäden im dritten Akt bei Octavian zusammen: Als Spielmacher führt er nicht nur den Baron hinters Licht, sondern er kann auch seinem Traum nachgehen, die Welt nach eigenen Wünschen zu gestalten. Diese drei Perspektiven laufen schließlich ineinander, die Grenze zwischen Träumen und Wirklichkeit wird aufgebrochen, wenn Sophie und Octavian gemeinsam in die Zeitlosigkeit entschweben. Kosky gelingt eine entstaubende Vertiefung der bekannten Handlung, die grundlegende Überlegungen zu Zeitlichkeit, Träumen und damit verknüpften Bildern des eigenen Selbst einzuholen vermag – all dies in einer vielseitig reminiszierenden, beeindruckenden Ästhetik, die mit Kitsch gekonnt spielt, ihm aber nie zur Gänze verfällt.
In der Premiere debütierte Marlis Petersen als Marschallin und gab dieser Figur eine ganz neue hypnotisierende Sinnlichkeit. Bedauerlicherweise musste Petersen ihre Mitwirkung für diese Wiederaufnahme kurzfristig zurückziehen. Für eine einzelne Aufführung dieser Serie konnte jedoch Diana Damrau als eine ihr ebenbürtige und ebenso herausragende Darstellerin gewonnen werden. Dies ist wohl als glückliche Fügung zu bezeichnen, denn Damrau ist als Kammersängerin des Freistaats keiner Bühne derart eng wie der Bayerischen Staatsoper verbunden und ihr natürlicher Karriereweg hätte sie eines Tages ohnehin in dieser für das Haus zentralen Partie nach München geführt.
Obgleich Damrau nach ihrem kürzlichen Rollendebüt die Marschallin bislang in ihrer erst zweiten Inszenierung verkörperte – einst war sie selbst eine das Publikum zu Tränen rührende Sophie – wusste sie an die ruhmreiche Tradition ihrer Vorgängerinnen in dieser Partie anzuknüpfen. Sie präsentierte ein makelloses, in mozartscher Manier vorgetragenes Textverständnis mit resolut anmutender Spontanität und leichter Ironie in der Artikulation. Zudem unterstrich sie die kunstvoll einfühlsamen Farbwechsel ihrer zarten Stimme auch szenisch mit bewusst gesetzten Handbewegungen und dezenter, ihre Partie mit Leben füllender, Mimik. „Sternstunde“ wäre gar eine Untertreibung: Diana Damraus Marschallin geriet zur himmlischen, über allem in dieser Aufführung schwebenden Vollendung – eine mit leichter Grandezza belebte, absolut glaubhafte Musterdarstellung der Marschallin.
Brindley Sherratt brillierte mit profunder, heller Bass-Stimme mit unübertroffener Bühnenpräsenz und einem perfektem Timing. Der britische Sänger gab dabei keinen Wiener Grobian, sondern einen eher dogmatischen, dabei durchaus auch charismatische Züge annehmenden Baron Ochs. Samantha Hankey gestaltete mit cremig, jugendlicher Mezzo-Sopranstimme einen charakterstarken, leidenschaftlich-innigen Octavian aus einem Guss. Eine Sophie zum Niederknien: Liv Redpath glänzte mit charmanter Darstellung und großer facettenreicher Sopranstimme mit silbrig-schimmerndem, glasklarem Timbre.
Als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper ist es für Vladimir Jurowski eine Selbstverständlichkeit, nicht bloß die Premiere, sondern auch jede Wiederaufnahme des Rosenkavaliers musikalisch zu leiten. Vollständig und ungekürzt, bei ihm entkam dabei keine Note der Partitur. Die von seinen Vorgängern traditionell vorgenommenen Striche hat er geöffnet, ein Novum! Erneut bewies er sich so als wahrer Mann des Musiktheaters und betonte das Süße, Parfümierte und Künstliche der Partitur lediglich dezent. Auch schwelgte er nicht in den schwungvollen Walzerläufen, sondern formte diese eher nüchtern und beiläufig in sein herb-derbes Gesamtklangbild, immer mit dem Fokus, die musikalischen Gegensätze und divergierenden Stilen der Partitur kontrastierend gegenüberzustellen – eine die Ohren des Publikums öffnende Interpretation.