Allerseelen als benannter Tag der Erinnerung an die Verstorbenen bringt die Erfahrung mit sich, den menschlichen Strauß aller Emotionen im Angesicht seines eigenen Lebens, deren Unausweichlichkeit durch Bindungen jeglicher Art, der Natürlichkeit des Todes und des gläubigen Zurechtfindens damit im Gedenken an die Aufgefahrenen in sich aufblühen zu sehen. Anlass für die Musiker der Nederlandse Bachvereniging, die getreu des verstorbenen Komponisten Mauricio Kagel vielleicht nicht alle an Gott, aber an Johann Sebastian Bach glauben, dafür ein Programm in Form von vier Bachkantaten der (Post-)Ostern- und Pfingstzeit im Wege der AllofBach-Reihe zusammenzustellen, die Freude, Trost, Hoffnung und Erlösung über Verlust und Schmerz in besonders prächtiger und aufgehobener Weise illustrieren. Am Gastleitungspult des in dieser Saison ansonsten hauptdirigentenlosen Ensembles saß dabei René Jacobs.

Drei Tage nach dessen 77. Geburtstag traf man bei ihm auf Gewohntes in Sachen Bach, als er vom äußerlichen Arrangement der Bühne das Kerncontinuo aus Siebe Henstras Truhenorgel, Lucia Swarts Cello und mit Jacobs fest verbundener Basslaute Shizuko Nioris vom NBV-Orchester trennte, indem er es vor sich und das Hauptorchester aus Streichern, Oboe, Trompeten und Pauken sowie dem übrigen Bass aus Kontrabass und Fagott wiederum dahinter zweireihig über die ganze Strecke linear auf Podesten stehend platzierte. Der Chor inklusive der darin mitsingenden Solisten befand sich somit vor dem Orchester, seitlich hinter dem Orgelpositiv leicht nach vorne schließend, die Frauenstimmen links, die Männer rechts. Auf ebenfalls bekannter und zumindest uneingeschränkt bewährter Linie lag auch Jacobs' interpretatorisches Klangbild von robuster, stark konturierter Bestimmtheit mit kräftigem In-die-Vollen-gehen und dabei doch gleichzeitig gelassen wahrgenommener Freudentänzelei, die natürlich theologische wie lebenspraktische Quintessenz des allerseligen Emotionsrundumschlags ist. Eine weitere Konstante: die Choräle, die in ihrer sehr langsamen, etwas piefig-protestantischen, fermatengetragenen Art zwar nicht mein Geschmacksfall, aber würdige, meditationsgeleitete Erkennungs- und Kontrastzeichen sind.
Ebenfalls typisch Jacobs spielte der Dirigent mit vokalen Solo-Ripieno-Effekten, begonnen in Christ lag in Todesbanden, BWV4, die die streng nach Kirchenkalender chronologisierte Programmdramaturgie eröffnete. So füllten die strahlend aus einem Guss emporkommenden NBV-Chorstimmen die Soloarien im jeweils beschließenden „Halleluja“, um neben dem an sich wunderschönen Resultat den versammelten Hoffnungs- und Glaubensruf der Gemeinde zu erzeugen. Drückte der Chor in „Es war ein wunderlicher Krieg“ den reflektierten Blick in verhaltenem Tempo aus, zuckte Jacobs seine Schultern nur genüsslich hoch und runter, als er in „So feiern wir das hohe Fest“ gar nicht extrem schnell genug die „Herzensfreud und Wonne“ der Auferstehung singen ließ. Quicklebendig in ihrer ästhetisch-stilistisch herausragenden Weise auch die Solisten, wenngleich bei Tenor Thomas Hobbs durch außerdem etwas hintenliegende, beschlagenere Stimme leider deutlichere Abstriche bei Aussprache und Verständlichkeit gemacht werden mussten.
Zusätzlich zur Wohltat ermöglicht die klare Artikulation schließlich ihrerseits die direkt ansprechende Einverleibung des Vortrags, den Isabel Schicketanz (ja, „den Engeln ähnlich“!, wie es in BWV31 heißt) sowie die kurzfristig eingesprungenen, unnachahmlich reinen und charaktergebenden Alexander Chance und Wolf Matthias Friedrich in warmer, technischer oder gerader, jedenfalls zugewandter Begabung und Ergiebigkeit äußerst versiert gestalteten. Ihnen könnte ich ewig zuhören, genauso wie Solooboist Rodrigo Lopez Paz, der mit erstem Auftritt in Der Himmel lacht! Die Erde jubilieret den herrlichen und fülligen Ton replizierte, den die prächtigen Trompeten und Pauken, die Streicher und der Chor anschlugen. Lopez Paz kleidete auch das Lamento in Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen, BWV12, in bestechender, weicher, atemgeschickter Vorzüglichkeit aus, das die Solisten mit im letzten Vers zu einem Tutti-Dacapo dazustoßenden Verdopplungschor in erhellendem Eindruck vokalisierten.
Bescherten Oboe und Altus sowie Bass und die anderen instrumentalen Soli von Evgeny Sviridovs Geige, Robert Vanrynes Trompete oder dem Continuo in der Kantate besondere Jubilate-Freude, trumpften NBV und alle Solisten (so jetzt auch glücklicherweise noch Hobbs) zum Pfingsfest Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!, BWV172, tanzbeweglich, gefühlvoll und feierlich auf. Die Nederlandse Bachvereniging erfüllte an Allerseelen eben alle Erwartungen.