Auf den Tag genau 155 Jahre her ist Anton Bruckners letzter Notenstrich an seiner Ersten Symphonie in d-Moll, 100 Jahre deren Uraufführung. Also nach einer Studiensymphonie in f-moll und der Ersten in c-moll seiner eigentlich zweiten richtigen Symphonie, die er in Wien nach Kritik am „fehlenden Thema“ laut Titelblatt „annullierte“. Da er zudem eine durchgestrichene Null darauf platzierte, bürgerte sich der fälschliche Begriff Nullte Symphonie ein, der ähnlich Franz Schuberts Ergüsse manchmal Verwirrung am wirklich historischen Erarbeitungszeitpunkt auslöste. Wurde sie – später von Bruckner als „ungiltig, ganz nichtig“ vermerkt – aufgrund manches Erscheinungsbildes mitunter sogar für nicht komplett fertig erachtet, trifft diese Betrachtung bei Schuberts Unvollendeter in h-Moll, aus dessen Geist Bruckners d-Moll teils zu kommen scheint, tatsächlich zu. Beim Internationalen Brucknerfest Linz im Originalklang standen beide unter dem Titel „Experimentieren“ auf dem Programm mit Robert Schumanns erstem Symphonieversuch, seiner allzu selten gespielten zweisätzigen Jugendsymphonie in g-moll. Jordi Savall und sein Orchester Le Concert des Nations waren die Ausführenden.

Jordi Savall © Reinhard Winkler
Jordi Savall
© Reinhard Winkler

Denn für sie galt das Experimentieren nahezu wörtlich, war es nach überhaupt gänzlich erstmaligem Schubert 2021/22 jetzt mit jungfräulich erarbeitetem Schumann auch die Erstbefassung mit Bruckner, um den der sogenannte Originalklang bisher mit offensichtlichster Ausnahme des diese Reihe eröffnenden Philippe Herreweghe noch einen relativ großen Bogen gemacht hatte. Eine spezielle Versuchsanordnung traf auch schon für Savalls Wahl der Instrumente zu, die ehrlicherweise etwas Rätsel aufgab. So erklangen in allen drei Werken Zugposaunen späterer Zeit, bei Schuberts 1865 vorgestellter Unvollendeter allerdings neben historisch-klassischen, für Bruckner mit ihnen zugleich getauschten Klarinetten, Langnaturtrompeten, die verständlich bei Schumann 1832/33 zum Einsatz kommen konnten, während ebenfalls durchgehend auf Inventionshörnern gespielt wurde. Generell, das liegt in der Natur der Sache und sei dennoch erwähnt: Beim Ausprobieren muss und kann nicht alles klappen oder Erwartungen zu 100% treffen. Das ist auch, und mitunter besonders, im Originalklang der Fall. Dass das Holz Le Concert des Nations‘, vor allem Flöte und Oboe, dann zudem mit der Klarinette, im Schubert und Bruckner abendlich jedoch außer Stimmung zueinander und intonatorisch angeschlagen waren, stellte ein erhebliches Ärgernis dar, unter dem die Aufführung leider litt.

Loading image...
Jordi Savall dirigiert Le Concert des Nations
© Reinhard Winkler

Ansonsten nämlich bot Savall eine erfreuliche wie penible Artikulations- und Akzentklarheit sowie schwellende Dynamiksteuerung in Wiener Antiphonaufstellung, die die bekannte Zutat des Weniger an Dramatik sowohl durch tempomäßig eher besonnen genommene schnelle Sätze als auch gemäßigte Affektisierung der Harmonien ausglichen. Geriet dadurch Schuberts zweiter Satz der Siebten agreabler, überzeugten überraschenderweise trotz manch noch vereinzelt etwas befremdet wirkender Passagen des Orchesters ausgerechnet Schumann und Bruckner am meisten. Für beide hatte Savall zusammen mit Joaquim Guerra eine Edition im Eigenverlag Alia Vox erstellt und sich bei Ersterem – für Bruckner war die Erstfassung vorgegeben – für die Leipziger Version des ursprünglich in Zwickau premierten Satzes der g-moll-Symphonie entschieden. Wild, mit kräftiger Pauke kam Schumann dort daher, wobei die luftigeren Kontraste nicht untergingen; es war auch da wieder der – zu Schumanns Lebzeiten nie aufgeführte – zweite Satz, der mit passenderer und Savalls Gefühl liegender Tempoübernahme des „Andantino assai – Allegretto“ noch eindeutig besser wirkte.

Abseits angesprochener Punkte agierte Le Concert des Nations in der Annullierten spürbar mehr aus einem Guss, von dem agogische Überleitungen, effektive Steigerungen zu sattem Blechklang im beibehaltenen Antagonismus der herrlich warmen, dezent-intensiven „Orgel“-Ruhepole mit kurzer Bläsermotivik und akkurate Portamenti zeugten. Allgemein umzogen Kopfsatz und Andante eine angemessene Würde und die Entfaltung der natürlichen Farbstärke der Instrumente. Zwar ging im Finale des wuchtigen, ausbalancierten Presto minimal die Puste aus, doch stimmte das Aufgreifen und Evozieren des Ungestümen im Allegro vivace mit abermals vermehrt bulligeren Posaunen und Pauken versöhnlich mit Savalls Symphonieexperimenten – mit denen der Komponisten ohnehin.

***11