Herbert Blomstedt ist wohl der dienstälteste Dirigent der Welt, in seinem mittlerweile 99. Lebensjahr längst eine Legende. Die Bamberger Symphoniker kennt er bereits seit den Fünfziger Jahren, von einem Gastspiel in Stockholm, noch unter Joseph Keilberth. Damals bereits bewunderte er die besondere Frische in der Musizierweise des Orchesters, den spontanen und natürlichen Flair ihres aus dem böhmischen Ursprung geprägten Spiels. Seit vielen Jahren ist er Ehrendirigent der Symphoniker, kommt wenigstens einmal im Jahr in die oberfränkische Universitätsstadt an der Regnitz. Wie immer sind auch heuer die beiden Abende wieder ausverkauft, die Stimmung des Publikums voll schwärmerischer Begeisterung, von fast ungläubigem Staunen über die nicht nachlassende Vitalität des Künstlers.

Herbert Blomstedt © Paul Yates
Herbert Blomstedt
© Paul Yates

Natürlich fordert das Alter inzwischen seinen Tribut; doch in der überraschenden Lösung, sich mit dem Rollator, fast unbemerkt, beim Auftritt einfach unter die aufs Podium strömenden Instrumentalisten zu mischen, liegt bereits eine augenzwinkernde List, ein charmanter Coup, der für ihn einnimmt. Beim kurzen Stimmen des Orchesters sitzt er schon mitten unter ihnen auf einer lederbezogenen Klavierbank, so sinnfällig wie selten ein „primus inter pares“. Kein Taktstock, die Partitur von Ludwig van Beethovens Vierter geschlossen vor sich auf dem Notenpult, er hat sie ohnehin mit allen Details im Kopf. Wo andere sich geradezu als „Manipulator“ der Musiker gerieren: bei Blomstedt sind es die Blicke, Kopfbewegungen, beredte Armbewegungen, eine Hand, die nach oben zeigt. Musizieren als Geben und Nehmen, als Anbieten und Folgen.

Beethovens Vierte Symphonie schließt mit ihrem entspannten Charakter direkt an seine ersten beiden an. Neben ihren großgewachsenen Schwesterwerken Nr. 3 und Nr. 5 empfand Robert Schumann sie „wie eine schlanke griechische Maid zwischen zwei Nordlandriesen”, nachvollziehbar etwa in der Dauer, bei fast kammermusikalischer Verwendung der Holzbläser und im allgemein heiteren Tonfall. Zu Beginn war von dem noch nichts zu spüren: dunkel und zögernd, aus Moll-Tonarten, tasteten sich die Musizierenden durch die langsame Einleitung, über A-Dur dann in ein hellwaches B-Dur, ein energiegeladenes Allegro vivace. Mit zügigen Auftakten feuerten sich die Geigen an, munter sprang das Fagott nebenher, ein gut gelaunter Beethoven wie selten. Ein besonderes Erlebnis im Mittelteil, wenn die Musik, grundiert von einem Pianissimo-Paukenwirbel, fast zum Erliegen kam, bevor die Motive wieder zusammenwuchsen und mächtig die Rückkehr des Hauptthemas feierten.

Im gelassen fließenden Adagio dann gaben die Bamberger geradezu intime Piano-Nuancen preis: eine kantable Melodie voll von zart-melancholischem Schmelz, träumerischer Verhangenheit im Hörnerklang; ein bezauberndes Spiel zwischen Dur und Moll, in der Umkehrung der Melodie im Klarinettengesang. Resolut die rhythmischen Pointen des Menuetto, bevor das gewitzt-übermütige Allegro die Hörer hellwach hält in launiger Spielerei der Akkorde aus filigranen Haupt- und Nebenstimmen, Beethovens geistvollem Übermut harmonischer Eigenwilligkeiten.

Für Herbert Blomstedt waren nordische Komponisten wie Grieg, Nielsen oder Berwald immer ein Herzensanliegen, so auch Jean Sibelius, der 62 Jahre alt war, als Blomstedt geboren wurde. Die Uraufführung von Sibelius’ Fünfter Symphonie, 1915 an dessen 50. Geburtstag, geriet triumphal, das Publikum tobte minutenlang, die Geburtsstunde des finnischen Volkshelden Sibelius. Mit zupackendem Elan meisterte Blomstedt die agogischen Klippen der wohl hellsten und freundlichsten Symphonie des Finnen. Sein Sibelius hatte Gefühl, ist leidenschaftlich, aber nie monumental. Er liebt durchaus die monochrome Lyrik dieser Musik, auch das Mystische, aber es wurde nie schwergängig, stockend. Man höre nur etwa die verschiedensten Artikulationsnuancen der Streicher im einleitenden Moderato, mit den Violinen links und rechts verteilt: ein wahrer Mikrokosmos des Streicherklangs. Graziös wanderte das Allegro-Thema zu den Holzbläsern hin, forderte reizvolle Erwiderungen keck (etwa in der Trompete) oder elegischer (in der Oboe) heraus. Unaufhaltsam steigerte sich sein Lauf zu ungezügelt-urwüchsiger Gestalt.

Im Andante wird das rhythmisch betonte Thema Basis einer souverän aufgebauten Passacaglia, steigerte sich im Variieren von langen Pizzicato-Abschnitten durch wechselnde instrumentale Kombinationen bis zum hymnisch verbreiterten Ausklang, der zugleich das berühmte, sich aufschwingende „Schwanenthema“ in den tiefen Streichern ankündigte, das am Ende des dritten Satzes die Oberhand gewann: in sechs wuchtigen Akkorden, finalen Hammerschlägen eines Bildhauers am fertiggestellten Kunstwerk gleichend. Auch hier steuerte der greise Blomstedt souverän, die Bamberger Musiker folgten traumsicher und transparent: das Kunststück eines wortlosen Gesprächs, eines farbenreichen Parlandos durch Phrasierung, immer neu überraschend.

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