„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, so berichtet es der Autor des alttestamentlichen Ersten Buchs Moses'. Und nachdem Gott das Paar Adam und Eva geschaffen und diese die Liebe entdeckt hatten, definierte der Schöpfer die Paradiesäpfel zu verbotenen Früchten. Während die Schöpfungsgeschichte eigentlich nur in Joseph Haydns Oratorium Widerhall in musikalischem Vortrag gefunden hat, regten die aufregend schillernden Früchte die Fantasie vieler Text- und Tondichter an. „Forbidden Fruits“ haben der Bariton Benjamin Appl und James Baillieu am Klavier zum fast unerschöpflichen Fundus ihres Liederrezitals gemacht.

Das Thema Schöpfung umweht auch Münchens neuesten Konzertsaal, der wie Phönix aus der Heizkohlen-Asche nahe Münchens westlicher Stadtgrenze innerhalb nur weniger Monate zur angesagten Pilgerstätte der Münchner Kulturliebhaber geworden ist. Zwei unternehmerisch tätige, kunstaffine Brüder hatten die Vision, dem ungenutzten, unter Denkmalschutz stehenden Aubinger Heizwerk mit einer umfassenden Einrichtung aus Konzertraum, Galerie, Restaurant und Biergarten als „Kulturkraftwerk“ eine Schöpfungsgeschichte eigener Art zu geben. Backsteinfassaden mit klassizistisch hohen Fensterfronten überraschen außen, in der Haupthalle innen imponiert eine moderne, breite Treppenkonstruktion, die eine Bartheke und Bandpodium mit oberen Stockwerken verbindet. Im Oktober 2024 konnte auch das neue „Elektra Tonquartier“ eingeweiht werden; ein Konzertsaal, in dessen hochmoderner Akustik 70 unsichtbar verteilte Mikrophone das Klangbild der Livemusik aufnehmen und – je nach Genre – passende Parameter wie Hall oder Lautstärke im Saal mit quasi „künstlerischer Intelligenz“ errechnen und aussteuern.
Mit Big Band und Kammermusik hatte der Saal seine Bewährungsproben bereits bestanden. Zum ersten Mal stand nun klassisches Konzertlied auf dem Programm. Benjamin Appl, gebürtiger Regensburger und bei den dortigen Domspatzen musikalisch erzogen, studierte in München und bei Dietrich Fischer-Dieskau. Nach Engagements an deutschen wie englischen Bühnen lebt er seitdem mit britischem Pass in London, wo er an der Guildhall School of Music and Drama unterrichtet.
Akademisch trocken war dieses Rezital nie. Die „Verbotenen Früchte“ mutierten dabei zum Sinnbild für lustvolles Mehr: mehr an Erkenntnis und Wissen, an Lust und Versuchung, in Überschreitung von Grenzen. Über viele Stile hinweg schlugen Appl und Baillieu in ihrem Programm einen faszinierenden Bogen vom anonymen Volkslied I will give my Love an Apple zu Kleinodien des französischen Impressionismus, von deutschem Kunstlied zwischen Schubert und Strauss zu frechen Chansons eines Kurt Weill oder Hanns Eisler. Da kein Programmheft ablenkte, führte der Sänger selbst mit kurzen Szenenankündigungen durch die Liedfolge, ohne dass dadurch der musikalische Spannungsaufbau verloren ging.
Ein geradezu sakraler Introitus: Appl stimmte In Paradisum aus Gabriel Faurés Requiem von der Rückseite her an; verstärkter Hall versetzte in die andächtige Empfindung eines gotischen Kirchenraums. Der Morgenglanz in Goethes Ganymed dann in eher trockenem Raumklang, in dem Appl mit in vielfarbiger Fülle wendigem Mezzavoce-Modus Hugo Wolfs Melodie hervorragend zur Geltung brachte. Unmittelbar anschließend Weills sehnsuchtsvoller Song Youkali, der Sorgen auf entfernter Insel zurückzulassen rät. Und dann im verblüffenden Stimmungswechsel Francis Poulencs humorvoll sarkastischer Chanson L’Offrande zwischen Liebesgott und verliebter Magd in pointiert kapriziöser Tongebung.
Humorvoll diesseitig Seit ich so viele Weiber sah aus Arnold Schönbergs Brettl-Liedern, lasziv modern Lothar Brühnes Kann denn Liebe Sünde sein. Verführerisches Talent zeigte Appl in Leonello Casuccis Just a Gigolo. Und mit der ätzenden Ironie eines wahren Comedian erzählte er Bertolt Brechts Ballade zum Paragraphen 218 in der Vertonung von Hanns Eisler. Da hätte sich mancher Purist neben Fanny Hensels Nonne höchstens noch mehr liedhafte Einsichten aus Federn von weiblicher Hand gewünscht. Die enorme Wandlungsfähigkeit von Benjamin Appl blieb höchst mitreißend. James Baillieu imponierte daneben als kluger und einfühlsamer Klavierbegleiter, der mit hörbarer Begeisterung am schnellen Szenenwechsel seinen Beitrag zum Gelingen dieses verlockend investigativen Programms hatte. Erst recht schmunzelnd bei Jake Heggies Snake (aus seinen Eve-Songs von 2000), wenn Appl genussvoll zelebrierend ein leuchtend rotes Exemplar von ebendiesem apple anbiss. Herrlich!